Rückblick “Demokratisiert Euch! Zu den Chancen gesellschaftlicher Politisierung gegen den Rechtsruck”

Es war uns eine riesige Freude am 23. Januar 2019 mit Saba-Nur Cheema (Leiterin Pädagogik der Bildungsstätte Anne Frank), Marina Chernivsky (Leiterin des Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) und Hermann Gröhe, MdB (Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag) ins Gespräch zu kommen!

Lesen Sie hier unseren ausführlichen Bericht der Veranstaltung oder sehen Sie sich das Video an!

Semra Kızılkaya, Marina Chernivsky, Hermann Gröhe, MdB, Saba-Nur Cheema und Jo Frank im Gespräch

Bericht zur Dialogperspektiven-Abendveranstaltung am 23. Januar 2019 in der Villa Elisabeth, Berlin

Mitte Januar, etwa eine Woche vor unserer Veranstaltung veröffentlichte die Aktivistin Nhi Le diesen Thread auf Twitter:

Twitter-Thread von @nhile_de

Gut zwei Wochen 2019 in Deutschland
1. Januar: Mann fährt in Essen und Bottrop in Menschenmenge, um „Ausländer zu töten“, Tat wird entpolitisiert von NRW-Innenminister, angebliches Motiv: „persönliche Betroffenheit und Unmut”.
1. Januar: Journalistin Nicole Diekmann twittert „Nazis raus“, in den folgenden Wochen bekommt sie dafür Hassmails und Morddrohungen.
4. Januar: Politiker*innen aller Parteien außer der AfD, Journalist*innen, Personen des öffentlichen Lebens wurden gehackt, private Daten veröffentlicht. Tat wird entpolitisiert, angebliches Motiv: Ärgernis über Aussagen der Betroffenen
4. Januar: Rechte Drohliste mit Adressen von Journalist*innen und Politiker*innen, versehen mit rassistischen Kommentaren wird veröffentlicht. Keine öffentliche Reaktion
10. Januar: Rechtsextremes Netzwerk bei der Polizei ist größer als angenommen, nachdem festgestellt wurde, dass Polizist interne Daten an Nazigruppe weitergegeben hat, Netzwerk wurde im Vorjahr entdeckt.
11. Januar: Landgerichte erhalten bundesweite Bombendrohungen, unterschrieben mit „nationalsozialistischer Offensive“. Keine öffentliche Reaktion.
14. Januar: NSU-Opfer Anwältin Seda Basay-Yildiz erhält erneut Drohfax, das mit NSU 2.0 unterschrieben wurde, bislang keine öffentliche Reaktion.
14. Januar: Identitäre Bewegung attackiert Redaktionsräume von u.a. FR und taz und verletzt eine taz-Mitarbeiterin.

Mit Hermann Gröhe, MdB, dem Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften der CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag, Saba-Nur Cheema, der Leiterin Pädagogik der Bildungsstätte Anne Frank und Marina Chernivsky, der Leiterin des Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment der Zentralen Wohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) durften wir drei Experte_innen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven zu Gast zu haben und so eine Gesprächssituation ermöglichen zwischen Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit und ihrem jeweiligen Engagement so vermutlich nicht allzu oft zusammenkommen. Moderiert wurde das Gespräch von Semra Kızılkaya, Alumna unseres Dialogperspektiven-Programms sowie von ELES-Geschäftsführer Jo Frank.

Zu Beginn wurden die Podiumsgäste nach ihrer jeweiligen Einschätzung der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage gefragt. Marina Chernivsky zeichnet ein Bild der „Gleichzeitigkeit“: Einerseits beobachtet sie eine Verschiebung von Diskursgrenzen, ein Gewöhnen daran, dass bestimmte Bilder gezeichnet, rassistische Positionen sagbar werden. Andererseits bemerkt sie eine neue Anerkennung für Unterschiedlichkeit in der Gesellschaft. Minderheiten, Institutionen und Einzelpersonen politisieren sich und treten dabei vermehrt aus ihren Communities heraus in den öffentlichen Raum. Die Bewertung der aktuellen Situation wird dabei zentral von der eigenen Position bestimmt: Bin ich sichtbar als „anders“?

Wie ist es in der praktischen Arbeit? Wie geschieht eine Politisierung, die als Reaktion auf die Missstände gesehen werden kann? Und wie viel Zeit haben wir noch?

Saba-Nur Cheema

Saba-Nur Cheema beantwortet die Frage nach der verbleibenden Zeit mit einem klaren Impuls: Es ist 5 vor 12! In ihrer täglichen Arbeit erlebt sie seit zwei bis drei Jahren eine deutliche Veränderung. Die Nachfrage nach Angeboten und Beratung zum Umgang mit Antisemitismus und Rassismus steigt signifikant, sowohl von Organisationen, Unternehmen, Institutionen, aber auch von Einzelpersonen. Cheema schlussfolgert: Der gesellschaftlichen Entmoralisierung folgt eine neue Moralisierung von Menschen, die sich zur Wehr setzen wollen.
Gleichzeitig werden viele Dinge salonfähig, Menschen trauen sich, offen rassistische und antisemitische Äußerungen zu tätigen; auch deshalb, weil solche Äußerungen nun demokratisch legitimiert sind.

Wie viel Zeit, Herr Gröhe?

Hermann Gröhe

Hermann Gröhe nimmt die Ungeduld wahr, mit der ein Kampf gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen gefordert wird und mahnt: Kurzzeitiger Aktionismus ist immer nur die begrenzt legitime Antwort auf eine solche Fehlentwicklung. Wir dürfen uns aber nicht zurücklehnen bis zur nächsten kurzfristigen Aktion.
Gröhe sieht klar die Notwendigkeit für die Gesellschaft, komplizierte und herausfordernde Identitäts- und Selbstfindungsprozesse zu durchlaufen. Anstrengung, sagt er, verstehe er im Sinne eines Fortschrittsmodell als produktiv und positiv konnotiert und plädiert damit für eine gemeinsame Auseinandersetzung, für ein gemeinsames Lernen.

Aber was ist es eigentlich, das wir lernen müssen?

Saba-Nur Cheema sagt: Es geht um die Veränderung der Normalität. Die Akzeptanz einer Migrationsgesellschaft oder gar einer postmigrantischen Gesellschaft als gesellschaftliche Realität ist in vielen Teilen der Gesellschaft nach wie vor nicht vorhanden.

Und wie dieses Verständnis herstellen?
Die Moderator_innen zitieren einen Auszug aus dem Vorwort der ersten Ausgabe der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart, zu deren Mitherausgeber_innen Marina Chernivsky zählt: „Explizit richten wir uns an alle Mitglieder der Postmigrationsgesellschaft. Lasst uns Allianzen bilden“.

Allianzen sind in diesem Zusammenhang zentral, nicht nur in der Arbeit des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, sondern besonders auch bei den Dialogperspektiven, die einen expliziten Versuch der Allianzenbildung darstellen und auch bei dem geplanten jüdisch-muslimischen Think Tank „Karov-Qareeb“, initiiert durch ELES und das muslimische Studienwerk Avicenna.

Marina Chernivsky

Marina Chernivsky sieht in der Allianzenbildung ein klares Potential, aus dem es jetzt gilt, zu schöpfen. Das allerdings nicht ohne den Rahmen, in denen diese Allianzen geschmiedet werden, zu hinterfragen: Wird die Bildung von Allianzen den gesellschaftlichen Minderheiten überlassen, eben weil diesen Gruppen ihre Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt wird? Wie gelingen Allianzen ohne diese Negativbasis? Wo bleibt die Allianz mit Mitgliedern der so genannten Mehrheitsgesellschaft?
Es gibt viele Differenzlinien zwischen, aber auch innerhalb von Minderheiten-Communities, so Chernivsy. Sie warnt: Allianzenbildung hat Grenzen! Sie ist nicht um jeden Preis möglich. Die Großdemonstration #unteilbar etwa hat einem Schabbat stattgefunden, was Repräsentant_innen der jüdischen Community per se ausschließt. Wer wird mitgedacht und wer nicht?

Postmigrantische Gesellschaft, Minderheiten, Communities… ist das nicht alles Identitätspolitik? Darf es das sein?

Saba Nur-Cheema nimmt eine klare Differenzierung vor: Fremdzuschreibung verstärkt oder führt erst zu einer hauptsächlichen Identifikation mit einem bestimmten Merkmal. Sie nennt Beispiele aus ihrer Arbeit: Gerade für Jugendliche kann „das Muslimische“ nicht nur, aber maßgeblich durch Fremdzuschreibung zu einem wichtigen Identitätsmarker werden. Dies dann empowernd zu nutzen, sei ein wichtiger Schritt.

Empowerment? Mit Fremdzuschreibungen? Wie kann das funktionieren?

Marina Chernivsky erklärt die unterschiedlichen Möglichkeiten: Entweder, wir arbeiten mit Identitätsordnungen und Essentialisierungen, die uns zugeschrieben werden, oder wir dekonstruieren sie. Wenn sie existieren und permanent reproduziert werden, dann, so Chernivsky, muss mit ihnen gearbeitet und radikal umgegangen werden; in der Bildung, in der Beratung, in der Politik.

Und welche Rolle spielen die Religionsgemeinschaften? Welche Pflichten und Chancen haben sie, im öffentlichen Diskurs Positionen zu beziehen?

Hermann Gröhe zeigt sich überzeugt, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Motivation wie zur Fruchtbarmachung religiöser Pluralität beitragen können und müssen. Kirchen und Religionsgemeinschaften unterscheiden sich von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen durch ihre zentrale Sinnstiftungsfunktion für einen Großteil der Menschen. In unterschiedlicher Form haben nahezu alle Religionsgemeinschaften Einfluss auf gesellschaftliche Fragen. Wer, wenn nicht die Religionsgemeinschaften, können die Herausforderungen, die mit einer multireligiösen Gesellschaft einhergehen, meistern?, zeigt sich Gröhe überzeugt. Die gegenseitige Wertschätzung des Glaubens des Anderen kann als Anknüpfungspunkt dienen, um über die Fragen, die unsere Gesellschaft herausfordern, sprechen und streiten zu können.

Videomitschnitt der Abendveranstaltung vom 23. Januar 2019

Im Bericht sind nur einige Impulse der Abendveranstaltung – sehen Sie hier – oder in unserem YouTube-Kanal – das vollständige Gespräch mit weiteren Fragen und Antworten, auch aus dem Publikum!

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