Rückblick: Paneldiskussion „Religion – Sprache – Gesellschaft“

Im Rahmen der Langen Nacht der Ideen des Auswärtigen Amts am 19. Juli 2020 richteten die Dialogperspektiven eine vierstündige, digitale Veranstaltung zum Thema „Europäische Interventionen – Navigieren durch pluralistische Gewässer“ aus. Wir beschäftigten uns mit drängenden Fragen von Pluralität, politischer Teilhabe, Allianzenbildung und gemeinsamer, inklusiver Gestaltung unserer Lebenswelten in einem vielfältigen Europa, das sich durch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit auszeichnet, aber gleichzeitig von politischer Fragmentierung und erstarkendem Nationalismus geprägt ist. In verschiedenen Formaten zeigten wir die Vielfalt der Perspektiven und die Komplexität dieser Themen.
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Video der Paneldiskussion I

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In der Paneldiskussionen hatten unsere Gäste die Möglichkeit mit Kübra Gümüşay, Max Czollek und Claudia Roth, MdB, unter Moderation von Jo Frank, über die Verflechtungen und Wechselwirkungen von Religion, Sprache und Gesellschaft zu diskutieren.

Kübra Gümüşay ist Autorin des Bestsellers »Sprache & Sein«, der im Frühjahr 2020 bei Hanser Berlin erschienen ist. Sie ist außerdem Aktivistin und Mitinitiatorin zahlreicher antirassistischer und feministischer Kampagnen und Vereine, beispielsweise der Kampagne #SchauHin oder das Bündnis #ausnahmslos.

Claudia Roth MdB ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages sowie Mitglied des Vorstandes der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft. Ihr besonderes Engagement galt und gilt den Menschen- und Bürgerrechten, dem Klimaschutz, dem intersektionalen Feminismus, entwicklungs- und asylpolitischen Fragen, dem Anti-Rassismus und der Kultur.

Max Czollek ist Lyriker und Autor und promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und veröffentlichte 2018 das Sachbuch „Desintegriert Euch!“ im Carl Hanser Verlag. Der Folgeband „Gegenwartsbewältigung“ wird am 18. August 2020 erscheinen. Seine Gedichtbände erschienen im Verlagshaus Berlin.

Sprache bildet Wirklichkeit ab und schafft Realität. Das Sprechen selbst kann Handeln sein und es kann zur Waffe derer werden, die Homogenität herbeisehnen. Die Grenzen des Sagbaren werden immer weiter verschoben, mit ihnen werden aber auch die Grenzen des Machbaren verschoben. Wie formt Sprache Gesellschaft? Und welche Veränderungen in Sprache können zu einem Gelingen unserer pluralen Gesellschaft führen? Gleichzeitigkeit, Nähe und Distanz, Ambivalenz und Interdependenz sprachlicher, religiös-weltanschaulicher und gesellschaftlicher Vielfalt – darüber sprachen wir an diesem Abend.

Jo Frank eröffnete die Diskussion mit einem kurzen Überblick zu den Themen, die er im weit gefassten Feld „Religion – Sprache – Gesellschaft“ an diesem Abend besprechen wollte. So sollte Sprache als Mittel gesellschaftlicher Umformung und Gestaltung im Vordergrund stehen, Sprache als Werkzeug für das Sichtbarmachen von Pluralität und Differenz sowie Sprache in der aktuellen Debatte um Rassismus und die Streichung des Begriffs „Rasse“ aus dem Grundgesetz. In seiner Hinführung bezog sich Frank auf Victor Klemperers „LTI – Notizen eines Philologen“, seinen Untersuchungen der Sprache des Nationalsozialismus und der Umformung von Gesellschaft durch Sprache. Heute sehen wir eine politische Nutzung gewaltvoller, diskriminierender Sprache, die Homogenisierung der Gesellschaft durch Sprache und die Übersetzung von Sprache in tatsächliches Handeln, beispielsweise in den rechten Terrorakten in Halle und Hanau. Gleichzeitig machte Frank deutlich, dass die Übersetzung von Sprache in Handeln auch positiv sein kann. Wenn die gesellschaftliche Pluralität in der Sprache sichtbar wird, so wird diese Pluralität auch in der Gesellschaft sichtbar. Sprache ist Macht, Sprache ist Veränderung. Sie ist daher ein wertvolles Werkzeug, sowohl für diejenigen, die für eine inklusive, offene Gesellschaft eintreten, als auch für diejenigen, die sich gegen diese stellen und für Exklusion und Homogenität eintreten.

Claudia Roth bestätigte die Eingangsthese: „Zuerst kommt das Sagbare, dann das Machbare; es kommt der Angriff auf die Menschlichkeit und dann der Angriff auf den Menschen.“ Sie bezog sich auf die Sprache der Entgrenzung bei der AfD und die menschenverachtende Sprache, die durch die AfD ihren festen Platz im deutschen Bundestag erhalten hat.

Kübra Gümüşay ergänzte, dass wir mit der Nutzung von Sprache auch eine bestimmte Sicht auf die Welt übernehmen. Durch wessen Auge schauen wir auf die Gesellschaft? Welche Sorgen werden ernst genommen? Wer wird entmenschlicht und zur Gefahr abstrahiert?

Menschenverachtende Sprache existiert nicht erst seit der AfD, warf Max Czollek ein. Wir müssen uns fragen, wie unsere Sprache bisher aufgebaut war, dass die eskalative Nutzung gewaltvoller Sprache durch die AfD überhaupt erst möglich geworden ist. Er stellte das Konzept der wehrhaften Demokratie in den Raum und leitete daraus ab, dass Demokratie sich notwendigerweise aus Pluralität und Differenz speist und Debatten um eine „Leitkultur“ daher gegen die Demokratie arbeiten.

Auch digitale Veranstaltungen geben uns die Möglichkeit Fragen aus dem Publikum aufzugreifen. So wurden beispielsweise Fragen nach der politischen, systematischen Verankerung gewaltvoller Sprache gestellt, beispielsweise in der Polizei, aber auch in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Es wurde die Frage gestellt, ob es immer erst eine „Explosion“ geben muss, damit sich auch nicht betroffene Menschen mit der Realität von Ausgrenzung und Rassismus auseinandersetzen. Kübra Gümüşay benannte hier das mangelnde Bewusstsein für andere Perspektiven und Lebensrealitäten, und dass es vielen Menschen leicht fällt, diese außer Acht zu lassen, obwohl der Alltag bereits genug Möglichkeiten liefert sich auch ohne Eskalation mit systematischer Ausgrenzung zu beschäftigen.

Auch Bündnisse, Allianzen und Wehrhaftigkeit waren Thema der Diskussion und wie diese theoretischen Überlegungen sich ins Praktische übersetzen lassen. Max Czollek warf hier ein, dass nicht die Sprache das Politische ist, sondern die Sprecher*innen. In Bezug auf Kunst sagte er, dass vor allem die praktische Arbeit an einem gemeinsamen Projekt zur Begegnung und zum Dialog führt. Kübra Gümüşay fügte hinzu, dass die Kunst ein Raum der Ambiguität ist, in dem nicht alles definiert sein muss, während dies in der Politik anders aussieht. Welche Möglichkeiten liefert das für den politischen Diskurs? Und wie unterscheidet sich der künstlerische / mediale Raum vom politischen Raum des Bundestages? Über die unterschiedlichen Strategien des Handelns in diesen Räumen diskutierten unsere drei Panelgäste.
Jo Frank beendete die Debatte mit dem Vermerk, die politische Ansprache nicht an marginalisierte Gruppen zu richten, sondern Pluralitätskompetenz von der Mehrheitsgesellschaft zu fordern. In seinem Abschlussplädoyer zeigte er die Dringlichkeit auf, gemeinsam eine Sprache der Solidarität und der Wehrhaftigkeit zu suchen und diese in Handeln zu übersetzen.

Wir bedanken uns herzlich bei Kübra Gümüşay, Claudia Roth, Max Czollek und Jo Frank für die bereichernde Diskussion und bei allen Zuschauer*innen, die sich durch ihre Fragen an der Diskussion beteiligt haben!

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